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Ikarus from Weltraumaffen Überlebensethik by Lucas Pawlik, Andreas Wiesbauer

Tracklist
11.Ikarus6:26
Lyrics

Ikarusflug und der Höhenflug der digitalen Detektive
Die Grundsituation der Menschheit in ihrer digitalen Transformation ist ein poetischer Wettstreit, ein globales Theater, an dem wir alle teilhaben, ein Krieg der Narrative sich widersprechender Propaganda, ein Krieg um die Neuerzählung unserer Menschheitsgeschichte. Es ist ein Wettstreit um die Deutungsmacht über das sich ereignende Leben, von der Nanoebene bis in die Weiten des Weltraums. Der Ausgang dieses Ultra-Marathon-Wettstreits ist ungewiss, denn er ändert sich radikal mit der viral werdenden Disruption.
Wir leben als Einzelne wie auch als Gesellschaft in einer Welt unserer Geschichten, die bereits so von der Eigendynamik der Propaganda durchdrungen ist, dass es für unsere Existenz hinderlich und lebensbedrohlich ist. Damit wir nicht selbst denken können und müssen, werden Propaganda-Geschichten erfunden, in der wir wie Live-Rollenspieler in die für uns zugedachten Rollen schlüpfen. Die Global Player sind im Strudel des sich überschlagenden digitalisierten globalen Theaters fast genauso ohnmächtig, wie die Menschen, die primär nur ihre Daten zum Welt-Verlauf besteuern können. Für die Eigendynamik der Macht sind auch sie wie Puppen, nur, dass diese mehr Stücke spielen können. Für sie mögen ewiges Leben, totale Herrschaft, oder ein Flucht zum Mars Ikarus-Rettungs-Fantasien sein, während die Datenspender als Fußsoldaten um jedes Recht und jede Freiheit kämpfen und betteln müssen, und in ihrer Freizeit von der Vergangenheit träumen. Alle aber leben gefährlich. Die einen leben gefährlich, weil sie bedeutend sind, die anderen leben gefährlich, weil sie unbedeutend sind. Alle sind digitale Detektive auf der Suche nach passenden Wahrheiten, die wir uns und anderen weitererzählen können. Denn wir sind mit unserem Leben darauf angewiesen, in der gerade stattfindenden Veränderung eine Geschichte zu erfinden, die uns überleben lässt oder gar Erfolg ermöglicht.

Dabei kennen wir immer nur einen Teil der Geschichte, die wir bereits ganz zu kennen glauben. Vermeintlich kennen wir die Geschichte von Ikarus, dessen Vater Dädalus tief in die Trickkiste gegriffen hat, um seinen Sohn mit Hilfe synthetischer Flügel die Flucht aus der Gefangenschaft zu ermöglichen. Wir wissen, dass er ihn gewarnt hat, nicht zu hoch zu fliegen, damit die Sonne seine Flügel nicht zum Schmelzen bringt. Kaum jemand aber weiß, dass Dädalus Ikarus auch davor gewarnt hat, nicht zu tief zu fliegen, weil die unberechenbaren Luftströmungen in der Nähe des Meeres seinen sicheren Tod bedeuten. Diese tödlichen Luftströmungen knapp über der Meeresoberfläche in der Ikarus-Geschichte symbolisieren ein Leben ohne Reflexion und Visionen, in dem wir den Stürmen des Schicksals hilflos ausgeliefert sind. Die Sonne steht für die Klarheit durch Reflexion, Imagination und Planung. Wir müssen uns an der Sonne unserer Vernunft orientieren auch auf die Gefahr hin, dass wir uns irren. Denn auch das, was als Idee gut und richtig ist, kann fatal sein, wenn wir beim Versuch, unser Ideal zu verwirklichen, keine Rücksicht auf unsere konkreten Beschränkungen nehmen.
Auch die Menschheit befindet sich in einem technologischen Höhenflug. Wir lernen aus der Ikarus-Geschichte, dass kein noch so kluger Hinweis es uns ersparen kann, den passenden Umgang mit den unmittelbaren Feedbacks des Lebens im praktischen Einsatz unser Technologie zu entwickeln. Wie Ikarus müssen wir durch unsere Technologien in einer neuen Umwelt navigieren lernen, um zu überleben. Wir müssen die technologischen Transformationen immer wieder unseren menschlichen Bedürfnissen entsprechend skalieren. Auch Geschichten, und wie wir sie konsumieren, sind sich entwickelnde Technologien. Wie jedes neue Medium transportiert auch jede neue Geschichte Vorurteile. Vorurteile ersetzen niemals die eigene Analyse und Recherche. Analyse und Recherche entscheiden wie wir leben, und ob wir überleben. Fast alles, was wir in den Propaganda-Kriegen, als ganze Wahrheit präsentiert bekommen, ist, wie in der Geschichte des Ikarus, verkürzt und so verändert, dass wir an ein für die Propaganda nützliches Klischee glauben können, z.B. “Die Jungen scheitern, weil sie nicht auf die Alten hören!”. Von der Propaganda besessen leben wir in einer Alice-in-Wonderland-artigen Scheinwelt, in der die atemberaubende Dramaturgie von Klischees auf unseren Bildschirmen uns instrumentalisiert und unsere Selbsteuerung wie einen Palliativpatienten ruhig stellt.

Analyse und Recherche immunisieren gegen die viral gewordene Springflut von Propaganda-Geschichten, auch weil wir durch sie früh genug Muster des eigenen Zombie-Modus erkennen und gegensteuern können. Wie ein luzider Träumer entlarven wir Propagandarealitäten, die die Einzigartigkeit unserer Realität, nur karikarturenhaft imitieren können. Wie ein Traumdeuter müssen wir jede Geschichte danach untersuchen, an welche Wünsche und Ängste sie appelliert, wer davon profitiert, und zu wem wir in unserer eigenen Lebensgeschichte werden, wenn wir diese Geschichte zu einem Teil unseres Lebens werden lassen.
Zur Propaganda-Resilienz ist kontinuierliche Arbeit an der eigenen Geschichte und an der Fähigkeit sie zu erzählen notwendig. Denn nur wer seine eigene Geschichten und Ideen erzählen kann, kann darauf verzichten, die der anderen zu übernehmen. Dazu gehört es zu lernen, unsere Geschichten und Ideen in verschiedenen Medien zu erzählen, das wie lernen zu hören, wie wir sprechen, und zu sehen, wie wir uns bewegen, mit dem Ziel, die Bewusstheit zu schaffen, wie wir unsere eigene Geschichte durch die Art, wie wir erzählen, erzählen. Jedes Medium ist seine eigene Botschaft, und alle Botschaften begegnen uns im Erleben unserer eigenen Geschichte. Analyse und Recherche sind die Wächter am Eingang unserer Lebensgeschichte, durch die wir unseren eigenen Vers zur Menschheitsgeschichte beitragen im Formationsflug mit der Sonne unserer Imagination. Solange wir können, sollten wir diese Freiheit genießen, unseren eigenen Reim zu machen. Wenn die wenigen Mächtigen verzweifelt den Ikarusflug aus der Gefangenschaft unseres konfliktbehafteten Menschseins zur Sonne des Transhumanismus wagen, könnte es gut sein, dass die Trümmer dieses Versuchs nicht ins Meer fallen, sondern, wie ein Meteoritenschauer, auf uns Übriggebliebene regnen.

Credits
from Weltraumaffen Überlebensethik, released December 6, 2021
Text und Sprachaufnahmen : Lucas Pawlik

Musik und Audiobearbeitung : Andreas Wiesbauer
LicenseAll rights reserved.
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